Rede von Olaf Scholz, Bundesminister für Arbeit und Soziales
Rede 17.06.2009
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Ort
Berlin, Friedhof Seestraße
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Rednerin oder Redner
sonstige
(Es gilt das gesprochene Wort.)
Sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister,
sehr geehrte Mitglieder des Deutschen Bundestages
und des Berliner Abgeordnetenhauses,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
1985 organisierte die Zeitschrift „Stern“ unter dem Titel „Bilder im Kopf“ eine Photoausstellung der besonderen Art. Gezeigt werden sollte, wie sehr unser kollektives Gedächtnis von der Macht bestimmter Bilder geprägt wird.
Zu sehen waren deshalb nicht die zuvor ausgewählten Photographien, sondern nur deren Beschreibungen. Das Bild selbst entstand dann vor dem inneren Auge des Betrachters. Eine dieser Bildlegenden lautete: „Ost-Berliner Arbeiter bewerfen am 17. Juni 1953 Panzer mit Steinen.“
Diese Beschreibung verweist auf eine Aufnahme, die – entstanden auf dem Leipziger Platz in Berlin – bis heute als Schlüsselbild des Juni-Aufstands in der DDR gelten darf.
„Steine gegen Panzer“, dieses Bild erzählt von der Spontaneität, dem verzweifelten Mut und dem unbedingten Freiheitswillen der Männer und Frauen, die damals auf die Straße gingen.
Dabei ist daran zu erinnern, dass die Menschen zunächst friedlich und sogar fröhlich zusammenströmten, voller Hoffnung auf ein gutes Gelingen und die Erfüllung ihrer Forderungen.
Am Anfang stand der Protest der Arbeiter gegen die angeordneten Normerhöhungen, der sich schnell zu einem Volksaufstand entwickelte. Rasch folgte der Ruf nach Freiheit, nach Selbstbestimmung und politischer Veränderung. Gefordert wurden freie Wahlen, die Entmachtung der SED und schließlich auch die Einheit Deutschlands.
Wirklich erfasst wurde das wahre Ausmaß der Proteste zum Teil erst nach der Öffnung der ostdeutschen Archive.
Mehr als eine Million Menschen in über 700 Städten und Gemeinden der DDR wagten es in jenem Frühsommer, ihrem lange angestauten Unmut über die herrschenden Zustände Luft zu verschaffen.
Überall in der DDR und mancherorts sogar bis in den Juli hinein wurden weit über 1000 Betriebe und Genossenschaften bestreikt, überall wurden SED-Büros und Dienststellen der Staatssicherheit besetzt, Gefängnisse gestürmt und Inhaftierte befreit.
Ein unterdrücktes Volk, so hat es Bundespräsident Johannes Rau im Jahr 2003 formuliert, das noch wenige Jahre zuvor eine Diktatur nicht nur hingenommen, sondern gestützt hatte, lehnte sich mit dem Ruf auf: „Wir wollen freie Menschen sein!“
„Steine gegen Panzer“, dieses Bild erzählt aber auch vom tragischen Ausgang der Revolte, von der Ohnmacht im Kampf gegen eine Herrschaft, deren fadenscheiniger Anspruch auf Legitimation einzig auf Macht und Gewalt gründete.
Nach allem, was wir heute wissen, starben bei der blutigen Niederschlagung des Volksaufstands durch das sowjetische Militär, die Deutsche Volkspolizei und die Staatssicherheit allein auf den Straßen über 50 Männer und Frauen.
Terror und Lüge, Gewalt und Unrecht bestimmten schließlich auch die Wochen und Monate danach. Das SED-Regime unterlegte die Ereignisse mit der absurden Legende von der „faschistischen Provokation“ und reagierte mit der Verleumdung und brutalen Verfolgung der streikenden und protestierenden Bürgerinnen und Bürger.
Die Folgen dieser menschenverachtenden Unrechtspolitik waren entsetzlich. Es gab
- mehr als 13.000 Verhaftungen,
- mindestens 20 vollstreckte Todesurteile
- und über 2.000 größtenteils langjährige Haftstrafen „wegen Boykotthetze“.
Die genaue Zahl derer, die in der Folge des Juni-Aufstands gelitten haben und deren Biografien davon geprägt worden sind, werden wir nie erfahren. Fest steht: Unzählige wurden über Jahrzehnte hinweg unter Druck gesetzt und beruflich benachteiligt.
Mit dem Aufbau eines gigantischen Repressionsapparates sollte der Freiheitswillen der Ostdeutschen weiter eingeschüchtert, im Keim erstickt und dauerhaft gebrochen werden.
Für viele Jahre ist das scheinbar gelungen – und nur wer sich die Brutalität des SED-Regimes nach dem 17. Juni 1953 vor Augen hält, kann den Mut der Menschen ermessen, die bei den Montagsdemonstrationen im September und Oktober 1989 in Leipzig auf die Straße gegangen sind.
Zunächst aber kehrten jährlich weit über 200.000 Bürgerinnen und Bürger der DDR der SED-Diktatur den Rücken. Ostdeutschland verlor dabei nicht nur seine Jugend – rund die Hälfte derer, die in den Westen flohen, waren jünger als 25 – die DDR verlor vor allem auch ihre gut ausgebildeten Facharbeiter, Ärzte und Techniker.
Und auch wenn die SED-Machthaber die Ereignisse des Jahres 1953 nun offiziell totzuschweigen versuchten, die Erinnerung an den 17. Juni blieb für sie selbst bis zum Ende ihres Staates ein kollektives Trauma. Sie wussten: Ohne den Einsatz der sowjetischen Armee wären sie hinweggefegt worden.
Die Angst vor der eigenen Bevölkerung saß den Machthabern im Nacken, bestimmte in vielerlei Hinsicht ihre Politik des Starrsinns und führte schließlich zum Sturz der Diktatur – trotz Mauer und Stasi.
Die Uneinsichtigkeit der alten Männer, die sich der Reformpolitik Gorbatschows verweigerten, hatte viel mit den Erfahrungen des 17. Juni 1953 zu tun – und sie beschleunigte letztlich die Abdankung des Regimes, als die Panzer in den Kasernen blieben.
Meine Damen und Herren,
es ist wahr: In seinen wesentlichen Zielen ist der Aufstand vom 17. Juni gescheitert.
Das ändert nichts an seiner überragenden Bedeutung für die deutsche Geschichte und nichts an seinem unschätzbaren Beitrag zum Ansehen des ganzen Deutschland.
Bereits wenige Tage nach den Geschehnissen, am 23. Juni 1953, bewertete Ernst Reuter, damals Regierender Bürgermeister von Berlin, das Erlebte so:
„Der 17. Juni 1953 ist (…) das größte Ereignis der Geschichte, das wir seit langem erlebt haben. Niemand kann sagen, ob es uns heute oder morgen oder übermorgen zum Ziele führen wird, aber das wissen wir: Dieser elementar-wuchtige Aufstand unseres Volkes (…) hat die Welt aufgerüttelt und die Bahn ist frei gemacht für eine bessere Zukunft.“
Zu Recht sah man auch im Ausland den 17. Juni als Manifestation des Freiheitswillens und Ausdruck der demokratischen Gesinnung der Deutschen, für die es bislang in der Geschichte nicht allzu viele Beispiele gegeben hatte.
Dabei ist zu betonen, dass der Aufstand der Ostdeutschen zur Rehabilitierung aller Deutschen beitrug, der Prestigegewinn zunächst aber vor allem den Westdeutschen zugute kam – so, wenn beispielsweise die britische BBC kommentierte:
„Deutschland ist in den Kreis der westlichen Völkerfamilie heimgekehrt. (…) Deutschland und der Westen sind an diesem Tage zum ersten Mal nicht Gegner, sondern Verbündete.“
Heute – mit dem Abstand von mehr als einem halben Jahrhundert – lässt sich erkennen, dass 1953 begann, was mit dem Fall der Mauer und dem Zerreißen des „Eisernen Vorhangs“ vollendet wurde. Der frühe Aufstand gegen die zweite deutsche Diktatur im 20. Jahrhundert ist ein Schlüsselereignis nicht nur der deutschen, sondern der europäischen Nachkriegsgeschichte.
Er war das Wetterleuchten eines Emanzipationsprozesses, der schließlich ganz Mittel- und Osteuropa erfassen sollte. Ihm folgten die Aufstände in Ungarn und Polen 1956, der „Prager Frühling“ von 1968 und die politischen Entwicklungen Anfang der 80er Jahre in Polen, ehe die Demonstranten von 1989 auch in Deutschland das Ende eines Systems der Unterdrückung besiegelten, das 36 Jahre zuvor noch einmal davon gekommen war.
Meine Damen und Herren,
„Geschichte ist immer Gegenwart.“
Das gilt, weil das Vergangene nicht einfach vergeht, sondern fortwirkt und uns prägt bis in unsere Tage hinein.
Das gilt aber auch, weil jede Gegenwart die Geschichte verändert, weil jede Zeit neue Fragen an die Vergangenheit stellt und damit neue Einsichten gewinnt.
„Geschichte ist immer Gegenwart.“
Mit diesem Satz beginnt der Marburger Historiker Eckart Conze seine jüngst vorgelegte Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, die er auf überzeugende Weise bestimmt sieht von der „Suche nach Sicherheit.“
Der 17. Juni 1953 lehrt uns, dass diesem Bedürfnis nach Sicherheit die Sehnsucht nach Freiheit zur Seite steht, ja, dass die Idee der Freiheit die vorrangige ist.
„Der Wunsch von 70 Millionen Menschen, die Freiheit des einen Teils zu bewahren und die Freiheit des anderen Teils zu erringen, das ist (…) eine Realität“, erklärte Willy Brandt 1962 zum ersten „Tag der deutschen Einheit“ nach dem Bau der Mauer.
Heute blicken wir nicht nur auf 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland zurück, sondern auch auf 20 Jahre Demokratie im vereinten Deutschland.
Allein diese 20 Jahre, ein Drittel der gesamten Dauer unseres Staates, übertreffen die erste Demokratie auf deutschem Boden, die Jahre der Weimarer Republik, bereits um ein gutes Stück.
Ich bin überzeugt, dass die Ideen des 17. Juni in Deutschland eine gute und dauerhafte Zukunft haben.
Wir leben in einer gefestigten Demokratie, wir bleiben aber dennoch auf Bürgerinnen und Bürger angewiesen, die sich aktiv für Freiheit und Demokratie, für Rechtsstaatlichkeit und soziale Gerechtigkeit einsetzen.
Die Frauen und Männer des Juniaufstands, die soziale Missstände anprangerten und demokratische Grundrechte einforderten, dabei ihr Leben riskierten und nicht selten Gefangenschaft und Stigmatisierung erleiden mussten, haben uns dafür ein würdiges Beispiel gegeben.
Wir trauern mit den Angehörigen um die Opfer, die damals getötet wurden. Und wir erweisen unseren Respekt denen, die uns durch ihre freiheitliche Gesinnung und persönliche Courage ein bleibendes Vorbild sind.
Sie verdienen unsere Erinnerung, unsere Anerkennung und unseren Dank!