Rede des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Klaus Wowereit
Rede 17.06.2009
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Ort
Berlin, Friedhof Seestraße
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Rednerin oder Redner
sonstige
(Es gilt das gesprochene Wort.)
Sehr geehrter Herr Scholz,
Herr Präsident des Abgeordnetenhauses,
meine Damen und Herren,
wir gedenken heute des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953. Wir gedenken der tapferen Frauen und Männer, die sich gegen Diktatur und Unterdrückung erhoben. Aus vereinzelten Protesten gegen Normenerhöhungen entwickelte sich binnen kurzem ein Aufstand gegen den Staat und seine Führung. In 700 Orten der DDR gingen eine Million Menschen auf die Straße. Sie wollten einen neuen freiheitlichen Staat. Und sie wollten die Einheit Deutschlands auf demokratischer Grundlage.
Der Aufstand wurde niedergeschlagen. Sowjetische Panzer rollten und walzten den Protest nieder. Menschen starben auf den Straßen oder wurden hingerichtet. Die jüngsten Opfer waren noch Kinder. Tausende tapfere Männer und Frauen mussten ins Gefängnis.
Aber der Aufstand vom 17. Juni 1953 war ein Fanal. Seither hatte die DDR-Führung Angst vor der eigenen Bevölkerung. Einen erneuten 17. Juni wollte die SED um jeden Preis vermeiden. Die Methoden der Bespitzelung und Unterdrückung wurden weniger sichtbar, dafür umso wirkungsvoller und für die Opfer zerstörerischer.
Zu offenen Aufständen kam es zwar nicht mehr. Aber die Unzufriedenheit wuchs: Der Mauerbau, die Niederschlagung des Prager Frühlings, die Biermann-Ausbürgerung und natürlich die im Alltag immer wieder enttäuschten Hoffnungen auf Verbesserungen, der immer offensichtlichere Niedergang: All das brachte das Fass zum Überlaufen.
Dieses Jahr steht Berlin im Zeichen von friedlicher Revolution und Mauerfall vor 20 Jahren. Wenn wir uns aber an den 9. November 1989 erinnern, dann klingt der 17. Juni 1953 wie ein Echo mit. Am 9. November gelang, was am 17. Juni scheiterte. Tragik und Glück liegen eng beieinander.
Wenn wir heute an der Grabstelle der Opfer des 17. Juni zusammenkommen, dann bewegt die Frage: Warum konnte nicht schon 1953 erreicht werden, was 1989 gelang? Darauf gibt es keine alles-erklärende Antwort: Der Erfolg der friedlichen Revolution von 1989 war auch ein historisches Wunder.
Er verdankt sich dem Mut und der Entschiedenheit der Bürgerinnen und Bürger der DDR sowie der fehlenden Bereitschaft der sowjetischen Führung, die DDR mit Panzergewalt zu erhalten.
Fest steht aber auch: Vom 17. Juni 1953 führt ein direkter Weg zum 9. November 1989. Vier Jahre nach seiner Gründung musste der SED-Staat erfahren, dass er keinen Rückhalt in der Bevölkerung hatte. Fortan dienten alle staatlichen Maßnahmen immer auch dem Machterhalt und der Verhinderung eines neuen 17. Juni. Der sichere Arbeitsplatz, die Rundum-Kinderversorgung, billiger Wohnraum und eine gesicherte Lebensperspektive in der sozialistischen Gesellschaft: Die SED-Führung musste im Wettbewerb der Systeme auf Gedeih und Verderb punkten, wollte sie nicht schwelenden Unmut in offenen Protest umkippen lassen.
Seit dem 17. Juni 1953 wussten die SED-Oberen um die fehlende Legitimation durch die Bevölkerung: Am Ende mussten sie aufgeben, weil sie der Bevölkerung das Wichtigste vorenthielten:
- Die Freiheit von Diktatur und Unterdrückung.
- Die Freiheit, das eigene Leben selbst zu gestalten.
- Die Freiheit in einem demokratisch vereinten Deutschland zu leben.
Dafür waren am 17. Juni 1953 Millionen Menschen in der DDR auf die Straße gegangen. Es war eine Manifestation des Freiheitswillens auf jede Gefahr.
Der Aufstand wurde brutal niedergeschlagen. Aber die Opfer waren nicht umsonst.
Am 9. November 1989 erfüllte sich das Vermächtnis des 17. Juni 1953.
Vergangene Woche habe ich den polnischen Gewerkschaftsführer und früheren Staatspräsidenten Lech Walesa mit der Ernst-Reuter-Plakette ausgezeichnet. Walesa sprach von dem Glück in einem Europa zu leben, das in Frieden und Freiheit vereint ist.
Viele haben dazu beigetragen – in Polen, in Ungarn, der Tschechoslowakei und der der DDR. Lang ist die Liste der gewaltsam niedergeschlagenen Aufstände im Ostblock. Am Anfang aber stand der 17. Juni 1953.
Wir gedenken mit Respekt und Dankbarkeit der Männern und Frauen des 17. Juni. Wir verneigen uns vor den Opfern.