Der 17. Juni 1953 – ein Datum der deutschen und europäischen Freiheitsgeschichte
Rede 17.06.2011
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Ort
Berlin, Friedhof Seestraße
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Rednerin oder Redner
BM_Friedrich
Exzellenzen,
liebe Angehörige der Opfer,
sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister von Berlin,
sehr geehrter Herr Präsident des Abgeordnetenhauses von Berlin,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,
sehr geehrter Herr Fritsch,
sehr geehrter Herr Präsident Knezovic,
liebe Schülerinnen und Schüler,
sehr geehrte Damen und Herren,
"In der Spree spiegelt sich das traurige Gesicht der Stadt."
Mit diesen Worten beschreibt am 18. Juni 1953 ein Journalist die Stimmung im von schweren Kämpfen erschütterten Berlin.
Nur einen Tag zuvor, am 17. Juni 1953, war die kommunistische Diktatur zum ersten Mal durch einen Volksaufstand erschüttert worden.
"Ein Ereignis, das Furcht und Hoffnung zugleich weckt."
So beschreibt ein westlicher Reporter die Entwicklungen im sowjetischen Sektor.
Was war geschehen?
Bereits am 16. Juni haben die Proteste mit Demonstrationen an zwei Berliner Großbaustellen begonnen. Die Menschen gehen zunächst auf die Straße, um gegen die Erhöhung der Arbeitsnormen zu protestieren. Aber diese Lohnkürzungen sind nur der Anlass, an dem sich die aufgestaute Unzufriedenheit entlädt. In kürzester Zeit steigern sich die Forderungen ins Politische:
Weg mit der SED, Rücktritt der Regierung, freie Wahlen, Einheit Deutschlands! Wie ein Lauffeuer greift der Aufstand im ganzen Staat um sich. In über 700 Städten und Gemeinden kommt es vom 16. bis zum 21. Juni zu Demonstrationen, Streiks, Kundgebungen.
Über 250 öffentliche Gebäude werden erstürmt, darunter auch SED-Bezirksleitungen, MfS- Kreisdienststellen, viele Partei- und FDGB-Gebäude.
Am Mittag des 17. Juni ist die SED praktisch entmachtet. Die meisten SED-Führungsfunktionäre sitzen kleinlaut und verschüchtert im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst.
Aber: Die sowjetische Besatzungsmacht rettet das Regime durch ihr hartes militärisches Eingreifen. Am 17. und 18. Juni verhängt sie den Ausnahmezustand im Ostteil Berlins und in 166 Stadt- und Landkreisen der DDR. In Berlin und drei Großstädten bleibt dieser Ausnahmezustand bis zum 11. Juli in Kraft.
Dennoch: Trotz erfolgreicher Niederschlagung der Proteste ist der SED-Staat nicht gefestigt. Nach dem Scheitern des Aufstandes verstärkt sich die Fluchtbewegung in den Westteil Deutschlands.
Gestützt auf die Besatzungsmacht, riegelt die DDR-Führung acht Jahre später die Grenze ab. Die Bevölkerung der DDR wird in Lagerhaft genommen, so hat es Rainer Eppelmann einmal sehr treffend ausgedrückt. Die Mauer beweist von nun an, dass dieser Staat sich nur mit Gewalt halten kann.
Der 17. Juni, den der Deutsche Bundestag noch 1953 zum „Tag der deutschen Einheit“, zum Nationalfeiertag erklärte, hat es in den folgenden Jahrzehnten schwer. Im Westen Deutschlands droht er nach einiger Zeit in sommerlicher Feiertagsroutine zu versanden.
Dazu kommt seit den 70er Jahren, dass manch einer es für geboten hält, den Unrechtscharakter und das Unterdrückungssystem der DDR nicht allzu offen anzusprechen. Da passt ein Aufstand gegen die Diktatur und für die Einheit nicht so recht ins Bild.
Im Ostteil Deutschlands versucht die SED nicht ohne Erfolg, den Aufstand aus dem Gedächtnis zu verdrängen. Als vom Westen aus gesteuerter „faschistischen Putschversuch“ wird er gebrandmarkt. Das war ein ebensolcher Unsinn wie die Bezeichnung der Mauer als „antifaschistischer Schutzwall“.
Heute wissen wir aus vielen zeitgenössischen Quellen und Zeugenaussagen: Die Ereignisse im Juni 1953 waren ein wirklicher Volksaufstand. Mit Hochdruck suchte die Stasi damals nach „Drahtziehern“ und „Hintermännern“. Es gab sie nicht.
Die Proteste vom 17. Juni waren eine spontane Massenbewegung, angetrieben von elementaren Bedürfnissen.
„Kollegen, reiht euch ein, wir wollen freie Menschen sein!“ skandierten die Demonstranten. Mehr als eine Million Menschen waren auf den Beinen; örtlich gab es Streiks bis in den Juli 1953. Auch im Bewusstsein der SED-Führung blieb der 17. Juni präsent – bis in den Herbst 1989.
„Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?“ fragte damals Staatssicherheitsminister Mielke in einer Dienstbesprechung. Und seine Ahnung war richtig. Als die Proteste von Bürgerrechtlern in Massendemonstrationen einmündeten, da verfolgten die Menschen dieselben Ziele wie 36 Jahre zuvor: Beseitigung der Diktatur, Demokratie, die Einheit Deutschlands.
Seit der friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung erinnert man sich wieder mehr an den 17. Juni.
Heute ist es unsere gemeinsame Aufgabe, den 17. Juni noch stärker im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. Der Juniaufstand darf nicht die „verdrängte Revolution“ bleiben, als den ihn einige Geschichtswissenschaftler bezeichnet haben.
Ohne Frage: Der Juniaufstand 1953 steht für die Zusammengehörigkeit von Freiheit und Einheit. Darum ist der 17. Juni 1953, auch wenn er damals (kurzfristig) gescheitert ist, ein wichtiges Datum unserer freiheitlichen Tradition. Und darum ist er auch nicht nur ein ostdeutsches, sondern ein gesamtdeutsches Datum.
Und schließlich ist der 17. Juni ein Ereignis von gesamteuropäischer Bedeutung. Er reiht sich ein in die Kette der Ereignisse, die den Niedergang der kommunistischen Diktaturen im Ostteil Europas markieren: Ungarn und Polen 1956, Tschechoslowakei 1968, wieder Polen 1980 und durch das ganze folgenden Jahrzehnt bis hin zu der europäischen Revolution von 1989/90.
Auch wenn die einzelnen Aufstände in den 50er und 60er Jahren gescheitert sind – jeder einzelne bewies erneut die Richtigkeit des alten Satzes, dass man auf Bajonetten nicht sitzen kann.
Die Kette dieser Ereignisse mündete nicht in den Sieg der Panzer und der Geheimpolizeien, sondern in den Sieg der Menschen und ihres Freiheitswillens.
Wir gedenken heute in Trauer und in Hoffnung der Toten des Volksaufstandes vom Juni 1953. Zwischen 50 und 125 Menschen kamen durch den Waffeneinsatz ums Leben. 18 Menschen wurden von sowjetischen Standgerichten erschossen. Zwischen 13- und 15.000 Menschen wurden festgenommen, über 2.700 zu Haftstrafen verurteilt, davon vier lebenslänglich; vier weitere Todesstrafen wurden verhängt, davon zwei vollstreckt.
Hinter jeder Zahl steht das Schicksal eines Menschen, eine zerstörte Familie, – möglicherweise ein zerstörtes Leben.
Ich erinnere mich an die Worte einer Witwe, die sich an das Verschwinden ihres Ehemanns im Jahr 1953 erinnerte: "Mein Mann kam noch am 17. Juni nach der Arbeit im Stahlwerk nach Hause und sagte: Ich glaube, ich habe heute zu viel gesagt.Am 18. Juni ging er dann morgens zur Arbeit. – Und kehrte niemals mehr zurück."
Stellvertretend für alle Opfer des 17. Juni nenne ich die Menschen, die hier auf dem Friedhof in der Seestraße bestattet sind:
Rudolf Berger
Horst Bernhagen
Willi Göttling
Edgar Krawetzke
Erich Nast
Oskar Pohl
Wolfgang Röhling
Gerhard Santura
Gerhard Schulze
Rudi Schwander
Werner Sendsitzky.
Am 23. Juni 1953 fand vor dem mit schwarzem Tuch verkleideten Schöneberger Rathaus in Westberlin eine Gedenkveranstaltung für die Opfer des Aufstandes in Ostberlin und der Sowjetzone statt. In einem Bericht über die bewegende Veranstaltung hieß es damals:
"Die Tränen der Hinterbliebenen sind die Tränen der Nation geworden. Mögen die Trauerglocken Glocken des Friedens und der Freiheit werden – für ein einiges und freies Deutschland."
Wir alle wissen: Es dauerte über drei Jahrzehnte, bis aus Trauerglocken Freiheitsglocken wurden. Wir leben heute in einem vereinten Deutschland – in Frieden mit unseren Nachbarn. Der 17. Juni kann uns heute und in Zukunft eine Mahnung sein, dass Freiheit und Frieden nicht selbstverständlich sind. Jeder von uns ist aufgerufen, sich Zeit seines Lebens mit Mut und Engagement für sie einzusetzen.