Prof. Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bildung und Forschung

Typ: Rede , Datum: 17.06.2012

  • Ort

    Berlin, Friedhof Seestraße

  • Rednerin oder Redner

    sonstige

Es gilt das gesprochene Wort.

Am Ende hat die Freiheit gesiegt. Der Weg dahin war lang und für viele Bürgerinnen und Bürger der DDR mit der schlimmen Erfahrung von Gewalt und Unterdrückung verbunden.

Heute gedenken wir – gemeinsam mit den Zeitzeugen und den Angehörigen der Opfer –mutiger Menschen, die vor 59 Jahren für die Freiheit auf die Straße gingen. Sie taten das, nachdem ihre anfängliche Hoffnung auf Freiheit zerschlagen war. Nach dem Tod Stalins wünschten sie sich, dass im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands ihre Grundrechte und ihre Freiheit endlich respektiert werden würden. Es gingen Gerüchte um, die Zeit des SED-Generalsekretärs Walter Ulbricht, der die stalinistischen Prinzipien nicht aufgeben wollte, sei vorüber.

Diese Hoffnungen sollten bitter enttäuscht werden. Unter sowjetischem Druck schlug die SED im Juni 1953 zwar den sogenannten „Neuen Kurs“ ein. Die Erhöhung der von den Angestellten kaum mehr erfüllbaren Arbeitsnormen nahm sie allerdings nicht zurück. Das brachte das Fass zum Überlaufen.

Die Wut darüber entlud sich in der Arbeiterschaft am Morgen des 16. Juni 1953 in einem spontanen Demonstrationszug von Bauarbeitern aus der Ost-Berliner Stalinallee. Ihr Ziel war das Haus der Ministerien der DDR in der Leipziger Straße. Die Menge schwoll auf über 10.000 Menschen an. „Wir wollen freie Menschen sein“, rief die Menge aus. An den Ministerien angekommen, verlangten sie ein Gespräch mit Otto Grotewohl und Walter Ulbricht. Doch die obersten politischen Repräsentanten wagten es nicht, dem Volk gegenüberzutreten. Für den folgenden Tag wurde ein Generalstreik ausgerufen.

An diesem 17. Juni beteiligte sich an den Massenstreiks und Demonstrationen an über 700 Orten in der DDR etwa eine Million Menschen – darunter auch viele Mitglieder der SED und sogar Volkspolizisten. Sie forderten den Rücktritt der Regierung, allgemeine freie Wahlen und ein geeintes Deutschland. Der unbedingte Wille und die Sehnsucht nach Freiheit waren ihr Antrieb.

Der Aufstand wurde von sowjetischen Truppen gewaltsam niedergeschlagen. 300 Tote wurden gezählt. Rund 1.400 Menschen wurden in der Folge zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Viele DDR-Bürger flüchteten aus ihrer Heimat nach Westdeutschland, um im freien Westen ein neues Leben zu beginnen.
Die Niederschlagung des Aufstandes durch die Truppen der Roten Armee sicherte der SED vorerst ihre Macht. Den Freiheitswillen der Menschen in der DDR konnte sie nicht brechen.

Unterdrückung und Gewalt sind keine Antwort auf die Sehnsucht der Menschen nach Freiheit. 36 Jahre später gingen sie wieder auf die Straßen, und sie forderten „Keine Gewalt“. Diese Losung war eine mutige Mahnung des Volkes an die Partei, die für die blutige Repression der Erhebung und für die jahrzehntelange Verunglimpfung der Aufständischen verantwortlich war.

Der Tag der Deutschen Einheit stand über Jahrzehnte für das Gedenken an den Mut und den Freiheitswillen der Menschen und für die Sehnsucht nach der Wiedervereinigung Deutschlands. Heute, über 20 Jahre nach der Wiedergewinnung der Einheit unseres Vaterlandes verneigen wir uns an diesem Tag vor jenen, die mutig gegen die Unterdrückung durch das SED-Regime aufgetreten sind. Wir verneigen uns vor der Zivilcourage derer, die sich mit der Unterdrückung nicht abfinden wollten. Und wir sagen damit auch, dass wir diese Menschen und ihren Mut nicht vergessen. Die vielen, die heute aus aller Welt Berlin besuchen, sollen auch davon erfahren: Dass in der Zeit der Teilung unseres Vaterlandes, die quer durch Berlin ging, Menschen mit ihrer Sehnsucht nach Freiheit für die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger aufgestanden sind.

Der 17. Juni 1953 ist ein Datum von gesamtdeutscher Bedeutung: Er steht in der Tradition demokratischer Revolutionen in Deutschland.

Der 17. Juni 1953 ist aber auch ein Datum von europäischer Dimension. Er war der erste antitotalitäre Volksaufstand im gesamten kommunistischen Machtgebiet. Auf ihn folgten die Aufstände in Ungarn und Polen 1956, der „Prager Frühling“ 1968, die Auguststreiks in Polen 1980, die „friedliche Revolution“ des Jahres 1989 und schließlich der nachfolgende Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft in Osteuropa.

Auch in diesen Tagen kämpfen Menschen wieder für die Freiheit und gegen politische Unterdrückung – zum Beispiel in Gesellschaften im arabischen Raum. Auch an sie denken wir heute – an ihren Freiheitswillen und ihre berechtigte Forderung nach der Achtung der Menschenwürde und der Grundrechte. Wer für Freiheit kämpft, kämpft für den Respekt vor den Menschen und seiner Würde.

So dürfen wir als Bürgerinnen und Bürger eines freiheitlich-demokratischen Staates eine Verharmlosung der Ereignisse des 17. Juni 1953 und Geschichtsvergessenheit nicht hinnehmen: Auch in diesen Tagen müssen wir erleben, dass die tragischen damaligen Geschehnisse von manchen Gruppen unserer Gesellschaft noch immer relativiert werden.

Manche versagen den Opfern des 17. Juni und ihren Hinterbliebenen noch immer den nötigen Respekt.
Wir gedenken heute in großer Trauer der Opfer des Aufstandes vom 17. Juni 1953 – der Getöteten, der Häftlinge und der vielen, die nach den Geschehnissen dieses Tages unterdrückt wurden.

Wir verneigen uns vor ihrem Mut und ihrem Kampf für die Freiheit und die Würde des Menschen. Sie sind uns eine bleibende Mahnung dafür, dass der Respekt vor der Freiheit zugleich der Respekt vor der Würde und den Grundrechten des Menschen ist.